„Und, wie lange musst du noch führen?“ Wer als Pferdebesitzer sein Pferd schon einmal wochenlang Runde um Runde auf dem Hof geführt hat, kann diese Frage schnell nicht mehr hören. Und auch nach der Genesung bleibt immer diese Angst. Nach jedem Reiten fühlt man prüfend über die Pferdebeine. Ist da wieder etwas dick? Wenig Diagnosen sind so gefürchtet wie die eines Fesselträgerschadens. Doch was ist Mythos und was wirklich wahr? Carsten Rohde, Gründer und leitender Tierarzt der Pferdeklinik am Kottenforst, räumt mit Irrtümern auf – und gibt praktische Prophylaxe-Tipps!
RRP: Herr Rohde, vorab ein wenig Theorie: Wie ist der Fesselträger eigentlich aufgebaut und wie äußert sich ein Schaden an dieser Stelle?
Carsten Rohde: Der Fesseltrageapparat hat die Funktion, das Fesselgelenk abzufedern. Er entspringt der Rückseite des oberen Randes des Röhrbeins und geht dann bis ungefähr zwei Drittel der Länge des Röhrbeines nach unten als Fesselträgerkörper, bevor er sich in zwei Schenkel aufteilt. Jeder Schenkel zieht zu einem Gleichbein und von da aus mit einem weiteren Ast auf die Vorderseite vom Fesselbein. Er bildet zusammen mit den Griffelbeinen und den Gleichbeinen eine Funktionseinheit. Entsprechend dieser anatomischen Gliederung können Verletzungen im Fesselträgerursprungsbereich und in den Schenkeln entstehen, seltener jedoch im Fesselträgerkörper. Fesselträgererkrankungen können lange unentdeckt bleiben, werden dann aber leicht chronisch. Werden Pferde mit einer Entzündung der Fesselträgerschenkel vorgestellt, stellt man meistens eine deutliche Verdickung auf einer Seite des Fesselkopfes fest, weshalb dieser asymmetrisch erscheint. Bei Entzündungen im Ursprungsbereich des Fesselträgers ist äußerlich meistens gar keine Veränderung sichtbar. Das Beugen der Gliedmaßen kann in diesem Stadium schon sehr schmerzhaft sein. Die Palette der Anzeichen, die auf einen Fesselträgerschaden deuten, ist insgesamt aber relativ breit. Die Symptome sind oft viel subtiler als die klassische Schwellung oder vermehrte Wärme. Bei Springpferden kann es zum Beispiel einfach sein, dass es nicht auf beiden Händen gleich gut landet oder vermehrt nach links oder rechts springt. Ein Dressurpferd geht vielleicht nur in einer Wendung nicht 100-prozentig taktrein. Solche und andere Symptome können sich auch über einen längeren Zeitraum erstrecken, bevor eine deutliche Lahmheit oder Schwellung eintritt.
RRP: Wie entsteht ein Fesselträgerschaden?
Carsten Rohde: In der Regel kann man zwei verschiedene Szenarien unterscheiden. Einmal gibt es die akute Traumatisierung, also zum Beispiel eine absolute Überdehnung des Fesselträgers, wenn das Pferd beispielsweise auf der Weide oder beim Ausreiten aus höherem Tempo in ein Loch tritt. Aber in den meisten Fällen handelt es sich um Wiederholungstraumen. Das bedeutet, dass der Fesselträger mehr Last erfährt als er mittelfristig aushält und die Regenerationsmechanismen, die dem Gewebe zur Verfügung stehen, nicht ausreichen, um das, was durch Belastung beansprucht wird, praktisch zu ersetzen. Beim Dressurpferd zum Beispiel muss der Fesseltrageapparat der Hinterhand bei versammelter Arbeit sehr viel Last aufnehmen. Irgendwann ist eine kritische Menge an Bandgewebe beschädigt – und dann treten klinische Symptome auf. Der Ursprung liegt dann aber meistens schon Wochen oder Monate zurück, ohne dass man es gemerkt hat. (Der schleichende Prozess ist daher oft schlimmer als ein Unfall.)
RRP: Wie kommt man zur Diagnose?
Carsten Rohde: Kommt ein Pferd mit Lahmheitssymptomen in die Klinik, steht als erstes ganz klassisch eine allgemeine Untersuchung des Bewegungsapparates auf dem Programm. Das Abtasten und Abdrücken an den neuralgischen Stellen geben schon Information darüber, ob eine fokale Schmerzhaftigkeit vorliegt, die über das normale Maß hinausgeht oder sich stark von den anderen Gliedmaßen unterscheidet. Dies zeigt sich schon bei Pferden, die beim Reiten lediglich eine kleine Taktstörung in den Wendungen zeigen, aber nicht deutlich lahm sind. Genau diese Taktstörung beim Reiten ist für die erste Diagnose sehr wichtig, wird aber oft nicht bemerkt. (, da die Pferde häufig zu stark beigezäumt werden.) Über die stetige und starke Verbindung über den Zügel zum Pferdemaul ist das, was man an klassischen Zeichen sieht, oft nicht mehr vorhanden. Bei einer klassischen Lahmheit vorne würde sich der Kopf senken, wenn das gesunde Bein auf dem Boden landet, doch wirkt der Reiter zu stark mit der Hand ein, bleibt die Anlehnung meistens konstant.
Bei der klinischen Untersuchung würde als nächster Schritt die Basisbildgebung anstehen. Hier ist es so, dass eine Ultraschalluntersuchung unabdingbar ist und möglicherweise auch ein Röntgenbild erforderlich ist. Das hilft noch einmal zu differenzieren, ob zum Beispiel möglicherweise in der Hinterhand eine Veränderung in den Spatgelenken vorliegen. Das ist auch nicht immer mit einer Leitungsanästhesie – mit diagnostischen Betäubungen – zweifelsfrei klinisch klar abgrenzbar. Hinzukommt, dass man so ggfs. auch erkennen kann, ob im Bereich des Ursprungs des Fesselträgers schon knöcherne Veränderungen vorliegen. Das ist dann ein eindeutiger Hinweis auf einen chronischen Schaden, da so etwas nur über Wochen oder Monate entsteht. Der Knochen wird mineralhaltiger durch wiederholte Traumatisierung und Entzündung. Das lässt sich im Ultraschall aber nicht erkennen, sondern nur beim Röntgen.
RRP: Was für Diagnose-Möglichkeiten gibt es außerdem?
Carsten Rohde: Die weiterführenden Verfahren wie MRT oder CT gehören heute auch dazu. Die Kernspinthermographische Untersuchung hat den Vorteil, dass man nicht nur auf verschiedenen Ebenen den Bereich des Fesselträgerursprungs genauer untersuchen kann, man bekommt zusätzlich auch Informationen über den Knochen – also den Bereich, wo der Fesselträger am Röhrbein befestigt ist – und Informationen über das Fesselträgergewebe selbst. Durch die verschiedenen Sequenzen, durch unterschiedliche Signale und Intensitäten, sind auch Aussagen möglich, inwieweit eine Verletzung akut oder chronisch ist.
Es ist durchaus wichtig, darzustellen, inwieweit das Gewebe geschädigt ist, da die Vorgehensweisen der weiteren Behandlung sich je nachdem deutlich unterscheiden. Wenn man zum Beispiel auf dem Ultraschall keine wirklichen Veränderungen feststellen kann und es keine Indikation für eine fortführende Untersuchung gibt, würde die Behandlung anders aussehen als bei einem Pferd, an dessen Fesselträger man strukturelle Schäden größeren Ausmaßes feststellen kann, die eine Chronizität aufweisen. Hier würde man einen allumfassenden Handlungsplan erstellen, um die Chancen, dass der Vierbeiner ein Reitpferd bleibt, zu optimieren.
RRP: Wie sieht die Behandlung denn aus?
Carsten Rohde: Bei einem harmlosen Fall, bei dem das Pferd eine geringfügige, vielleicht nur für den Reiter spürbare Lahmheit zeigt und bei dem durch eine klinische Untersuchung im Bereich des Fesselträgerursprungs eine fokale Schmerzhaftigkeit feststellt wurden, die stärker ausgeprägt ist als auf dem anderen Bein, versucht man durch eine diagnostische Betäubung die Lahmheitsursache diesem Bereich zuzuordnen. Zudem sollten sich die tiefe Beugesehne und das Unterstützungsband ultrasonographisch unauffällig darstellen. Dann kann die Bandbreite der möglichen Behandlungen von nur Schritt führen und für eine gewisse Zeit nicht steroidale Entzündungshemmer zu verabreichen, über physikalische Therapieformen wie Stoßwellentherapie und Laserbehandlung bis hin zu einer Injektion mit entzündungshemmenden Medikamenten oder regenerativen Therapien wie Thrombozytenreiches Plasma gehen.
RRP: Was ist der Vorteil einer Behandlung mit Thrombozytenreichem Plasma?
Carsten Rohde: Je mehr struktureller Schaden vorhanden ist und je großflächiger dieser ist, desto mehr rücken die regenerativen Behandlungsformen in den Vordergrund, da Bänder- und Sehnengewebe eine sehr geringe intrinsische Durchblutung aufweisen. Die für die Heilung erforderlichen Botenstoffe, die mit dem Blut dorthin transportiert werden, kommen mit wesentlich geringerer Konzentration dort an, als zum Beispiel bei Schäden der Haut oder der Muskulatur. Zellen, die das Bandgewebe (Kollagen) des Fesselträgers produzieren, haben von Natur aus eine sehr niedrige Stoffwechselrate haben.
Deswegen greift man gerne auf das Thrombozytenreiche Plasma zurück. Man nimmt dem Pferd Blut aus der Vene ab, konzentriert es und spritzt dieses Konzentrat in den beschädigten Bereich – nicht unbedingt genau in den Fesselträger, sondern in das umgebende Gebiet. Wenn die Blutplättchen zerfallen, setzen sie massenhaft Botenstoffe frei. Dadurch wird das Gewebe weicher, schwillt ab und der Stoffwechsel wird erhöht. Dadurch beschleunigt man den Heilungsprozess.
RRP: Ist die Behandlung mit Thrombozytenreichem Plasma deswegen immer die erste Wahl?
Carsten Rohde: Ich präferiere keine Behandlungsmethode, sondern mache es immer von der individuellen Verletzung des Pferdes abhängig, wobei dessen vielleicht nicht ganz perfektes Exterieur auch eine große Rolle spielt. Denn eine gewisse Konformation der Gliedmaßen kann per se schon zu einer höheren Belastung der Fesselträger führen. Man sieht das öfter bei älteren Pferden mit einem sehr gestreckten Sprunggelenk, wodurch der Fesseltrageapparat deutlich mehr beansprucht wird. Insbesondere in diesem Fall ist möglicherweise vor allem ein orthopädischer Beschlag erforderlich. Man konzentriert sich auf das beschädigte Gewebe, muss jedoch die anderen Baustellen optimieren, damit das Gewebe eine möglichst gute Voraussetzung findet, um abzuheilen. Gebäudemängel können zu einem deutlich höheren Risiko führen, dass das Pferd so eine Verletzung erleidet. Gleichzeitig ist es aber auch so, dass die Voraussetzungen für eine Heilung nicht so gut gegeben sind.
RRP: Wie sieht die Vorgehensweise bei einer hochgradigen Beschädigung des Fesselträgers aus?
Carsten Rohde: Für den schlimmsten Fall gibt es operative Verfahren wie die Osteostixis, bei der in den Knochen sehr kleine Löcher gebohrt werden, mit dem Ziel, dass die Blutgefäße aus dem Knochen in den Fesselträgerursprung einwachsen können. So entsteht eine erhöhte Durchblutung des betroffenen Bereiches.
Dann gibt es eine Durchtrennung des Bandes, welches wie eine Manschette um den Fesselträger führt, denn ein Teil der Schmerzhaftigkeit beruht auch darauf, dass der entzündete Fesselträger zwischen dem Röhrbein, den Griffelbeinen und dieser Manschette letztendlich nicht genug Platz und wie ein Schlauch in einem Autoreifen Überdruck hat. Wenn man die Manschette öffnet, hat das Gewebe mehr Raum und ein Teil der Schmerzhaftigkeit ist damit schon behoben. Es ist zwar noch keine Heilung erfolgt, aber es ist die Voraussetzung gegeben, dass das Pferd schmerzfrei ist. In Kombination mit einer Injektion mit Thrombozytenreichem Plasma kann man dem Fesselträger nicht nur mehr Platz verschaffen, sondern auch einen Impuls geben, der die Heilung unterstützt.
Die dritte Möglichkeit, der Nervenschnitt, wird nur als letzte Option durchgeführt, um dem Pferd noch einen schönen Lebensabend auf der Weide zu ermöglichen. Die Neurektomie nimmt dem Pferd den Schmerz, indem man die Schmerzleitung unterbindet. Das bedeutet, dass man den Nervenast durchtrennt, der in den Fesselträger mündet. Ein so behandeltes Pferd ist aber nicht mehr für den Turniersport zugelassen, das ist laut Tierschutzgesetz untersagt. Und selbst wenn man das Pferd nur zuhause noch leicht arbeiten möchte, muss man sehr vorsichtig sein. Denn je nachdem, was für eine Beschädigung genau vorlag, kann es zwar sein, dass das Pferd keine Lahmheit mehr zeigt – das vorhandene Gewebe kann aber trotzdem noch zu stark belastet werden.
RRP: Früher war ein Fesselträgerschaden immer gleichzusetzen mit dem Ende der Sportkarriere des Vierbeiners. Gilt das heute noch?
Carsten Rohde: Das Ziel ist immer, die Heilung so funktionell wie möglich zu machen, damit das Gewebe, das sich neu bildet, möglichst dicht am Originalgewebe ist und nicht nur aus Narbengewebe besteht. Denn Narbengewebe besteht zwar auch aus Kollagen, jedoch aus mehreren unterschiedlichen Arten, die sich vor allem durch eine deutlich geringere Elastizität auszeichnen als das Kollagen des Typ I aus dem das Fesselträgergewebe zur Hauptsache besteht. Vor 25 Jahren war ein Fesselträgerschaden beim Pferd häufig gleichzusetzen mit einem Karriereende nicht nur als Sport-, sondern überhaupt als Reitpferd. Damit war diese Diagnose der Schrecken eines jeden Pferdebesitzers. Das muss man heute allerdings nicht mehr so kritisch sehen, da die Diagnostik so fortgeschritten ist, dass man dem Pferd schon eine Pause verordnet, wenn nur wenige Fasern leicht beschädigt sind. Man schreitet also nicht wie früher erst dann ein, wenn es schon fast zu spät ist. Zudem gab es die PRP-Methode, also Thrombozytenreiches Plasma und andere sog. Regenerative Behandlungsverfahren damals noch nicht.
RRP: Kann man den Heilungsprozess durch Zusatzfutter unterstützen?
Carsten Rohde: Mir sind keine Untersuchungen bekannt, die zweifelsfrei nach wissenschaftlichen Kriterien belegen, dass man durch Zusatzfutter signifikant die Nährstoffzufuhr der Sehnen erhöhen kann. Trotzdem ist es ein sinnvoller Bestandteil der unterstützenden Therapie, denn man kann auch im Umkehrschluss nicht beweisen, dass die Nährstoffe nicht dort ankommen. Deswegen ist es immer wichtig, auch das Zusatzfutter mit dem behandelnden Tierarzt abzusprechen.
RRP: Wie schnell regeneriert der Fesselträger eines jungen Pferdes im Gegensatz zu einem 18-jährigen Pferd?
Carsten Rohde: Der Heilungsprozess dauert bei einem älteren Pferd immer länger, aber dennoch hängt es immer vom individuellen Fall ab. Bei einer chronisch degenerativen Erkrankung liegt der Fokus der Behandlung eher darauf, die Symptomatik zu lindern und es dem Pferd angenehmer zu machen. Es gibt keine Chance darauf, den Prozess aufzuhalten oder gar umzukehren. Bei einem jungen Pferd mit einer Fesselträgerzerrung ohne strukturelle Schädigungen ist es aber relativ gut vorhersehbar, wie lange es dauert, bis das Pferd wieder gearbeitet werden kann. Wichtig ist nicht nur die Behandlung der Struktur, sondern dass man auch in der Rekonvaleszenz darauf achtet, dass das Pferd physisch möglichst fit ist, bevor man das volle Arbeitspensum erreicht. Pferde sind von sich aus sehr ausdauernd, aber das muss man auch trainieren. Zudem brauchen die Sehnen und Bänder einen gewissen formativen Reiz, damit die Zellstrukturen entsprechend Sehnen- oder Bandmaterial produzieren, das der Belastung angepasst und widerstandsfähig ist.
RRP: Was bringt mehr: Schritt führen oder das Pferd einfach für mehrere Monate auf die Wiese stellen?
Carsten Rohde: Für ein optimales Ergebnis ist die kontrollierte Bewegung mit einem formativen und kontrollierten Reiz des Gewebes unabdingbar. Natürlich kann man das Pferd auch auf die Weide stellen und später wieder reinholen und antrainieren. Aber oft ist es so, dass dieses Pferd nach acht Wochen dann wieder lahm beim Tierarzt vorgestellt wird. Und dann hat man ein Zeitfenster verpasst, in dem man das Pferd optimal hätte behandeln können. Denn falls ein struktureller Schaden vorlag, hat sich dort in der Zwischenzeit Narbengewebe mit einer anderen Kollagenzusammensetzung gebildet und dieses Kollagen besitzt andere elastische Eigenschaften als das originale Fesselträgergewebe. Wo Materialien mit unterschiedlicher Elastizität miteinander verbunden sind, entsteht dann oft ein Folgeschaden. Wenn ein Teil des Gewebes sich stärker dehnen kann als ein anderer Teil, ist die Kraft, die dort wirkt, sehr unterschiedlich verteilt und ein Teil des Gewebes ist dann schneller überlastet als der andere.
Trotzdem will ich nicht generell davon abraten, dass Pferd für die Rehabilitation auf die Weide zu stellen und den Fesselträgerschaden dort auszukurieren. Wenn es ausgeschlossen ist, das Pferd mehrere Monate nur Schritt zu führen, ist man besser damit beraten, das Pferd ganztägig auf die Weide zu stellen und zu hoffen, dass die kontinuierliche Bewegung den Schaden heilt. Der Pferdebesitzer kennt sein Pferd am besten. Es ist immer einfach, etwas zu empfehlen, was sich möglicherweise in der Realität gar nicht umzusetzen lässt. Dann ist es möglicherweise besser einen Kompromiss einzugehen und dem Pferd eine gewisse Freiheit zu geben, weil sich das mittelfristig positiver darstellt, als wenn man sich ganz starr auf einen Behandlungsweg festlegt, der aber für den Patienten gar nicht in Frage kommt.
RRP: Wie hat sich in den letzten Jahren die Erkrankung des Fesselträgers verändert?
Carsten Rohde: Auch wenn ich keine wissenschaftliche Studie darüber geführt habe, musste ich im Laufe der Jahre feststellen, dass Fesselträgerschäden immer häufiger auftreten. Es gibt einige Faktoren, die als Ursache dafür in Frage kommen: Einerseits hat man einen enormen Zuchtfortschritt erzielt und die Pferde heute bieten von sich aus Bewegungen an, für die man früher jahrelang trainieren musste. Pferde, die mit enormem Bewegungspotenzial ausgestattet sind, haben zwar die erforderliche Elastizität für den Grand Prix-Sport, aber die nötige Physis dafür ist noch nicht vorhanden. Die Reife des Skeletts und der Muskulatur braucht Jahre, um diese Belastungen dauerhaft auszuhalten. Wenn man den Bogen überspannt – ohne dass es einem auffällt -, kommt man in eine Situation, die man den katabolen Stoffwechsel nennt. Das heißt, die Belastung auf dem Gewebe ist höher als die Regenerationsfähigkeit. Dann gehen Fasern zugrunde, erst einzelne, aber wenn der Zustand oder die Belastung bleibt, sind immer mehr Fasern betroffen, bis das klinische Bild der Lahmheit sich voll entfaltet hat.
Dadurch, dass man früher jahrelang dahin arbeiten musste, war die Konditionierung des Fesselträgergewebes viel langfristiger als das heute der Fall ist. Der Fesselträger eines Pferdes, das heute schon vierjährig Mitteltrab geht und dessen Reiter es kaum aussitzen kann, weil es so viel Schwung hat, wird ganz anders belastet als der von einem Dressurpferd in den 80er-Jahren, bei dem man noch jeden Tritt raustreiben musste. Dazu kommt, dass die Pferde sich heute viel mehr spezialisiert haben als es früher der Fall war. Die Zucht bringt fast nur noch reine Dressur- oder Springpferde heraus, die man in keiner anderen Sparte der Reiterei einsetzen kann.
RRP: Welche Faktoren begünstigen außerdem eine Verletzung des Fesselträgergewebes?
Carsten Rohde: Zu dem sich immer extremer entwickeltem Bewegungsapparat kennen die Pferde oft auch nur noch eine Art von Untergrund. Sportpferde, die beispielsweise immer nur auf einem Ebbe-Flut-Platz geritten werden, erfahren durch den Grund, durch den sie laufen, ein gewisses Spektrum an Reizen, die der Körper aufnimmt und an die Muskulatur weitergibt, die wiederum darauf reagiert. Diese Mikro-Koordination, den Körper durch unterschiedlichste Reize zu trainieren, ist im Sport im Humanbereich elementarer Bestandteil des Trainings, da man weiß, dass man Verletzungen vorbeugen kann, wenn die Muskulatur diese Mirko-Koordination trainiert. Beim Pferd meidet man dies hingegen oftmals und lässt es die meiste Zeit seines sportlichen Lebens nur auf einer Art von Untergrund laufen. Ein tiefer Boden würde dann von jetzt auf gleich in der Muskulatur eine Situation erzeugen, die sie noch nie erfahren hat und durch die sie daher stärker beansprucht wird. Dadurch ermüdet sie schneller, was wiederum Bänder und Sehnen kompensieren müssen. Besser ist es, das Pferd von Anfang an vorsichtig an verschiedene Böden zu gewöhnen und auch kontinuierlich auf verschiedenen Untergründen zu trainieren. Viele Reiter meinen ihre Pferde zu schützen, wenn sie verschiedene Bodenverhältnisse meiden. Eigentlich schaden sie ihnen damit aber!
Der RRP-Experte: Carsten Rohde
Carsten Rohde studierte in München Tiermedizin und absolvierte sein Internship an dem Illinois Equine Hospital in Naperville, USA und Residency der Großtierchirurgie an der Purdue University und der Ohio State University in den USA. Er ist Diplomate des American College of Veterinary Surgeons und des European College of Veterinary Surgeons. Von 2006-2017 war er als Mannschaftstierarzt Vielseitigkeit für das DOKR als FEI-Tierarzt tätig. Seit 2006 führt er die Pferdeklinik am Kottenforst in Wachtberg-Villiprott. Neben der Orthopädie und Chirurgie ist die Notfallmedizin ein ganz wesentlicher Schwerpunkt in der Pferdeklinik am Kottenforst.